Freitag, 10. Mai 2013

Das Dersim Massaker



Wir möchten euch mit diesem Artikel, auf das von der Öffentlichkeit stets verdrängte, Dersim Massaker aufmerksam machen. Wir gedenken den Opfern des Massakers und möchten euch ein wenig über die Geschichte informieren.

Zur Zeit der Gründung des türkischen Staates ist die Homogenisierung des in der Türkei lebendes Volkes einer der wichtigen politischen Ziele Mustafa Kemals gewesen. Darunter ist zu verstehen, dass er vor hatte alle Minderheiten die in der Türkei leben ihren Wurzeln zu entziehen, sodass diese sich nach dem Leitbild des neuen türkischen Staates und seines Staatsoberhauptes richten.


Diesem Willen wollten sich viele Minderheiten wie z.b. die Kurden, die Aramäer, die Armenier, das Khalifat nicht beugen. Diese Minderheiten führten Demonstrationen und Kämpfe mit der türkischen Regierung die meist brutal niedergeschlagen worden sind und mit Massenermordungen und Verfolgungswellen endeten.


Die Aleviten in Dersim, die zur Zeiten des osmanischen Reichs sehr verhasst gewesen sind, da sie ihren autonomen Status und ihre Religion nicht ablegen wollten, waren anfangs Befürworter des neuen, türkischen Staates und die Scheiche und Stammesführer der Aleviten stellten sich auf Atatürks Seite beim nationalen Befreiungskampf gegen die Besatzungsmächten (1919 – 1923).
An diesem Befreiungskampf waren auch die Kurden beteiligt, die Atatürk im Kampf sehr unterstützen, da dieser zuvor im Vertrag von Sèvres diesen und anderen Minderheiten Autonomiezugeständnisse gemacht hatte.
Nachdem dieser Befreiungskampf erfolgreich beendet wurde revidierte Atatürk diese Autonomiezugeständnisse im neuen Vertrag von Lausanne(1923).

Die Reformen von Atatürk, unter anderem die Einführung des Laizismus und die Säkularisierung (Trennung von Staat und Religion), stießen inbesondere bei den religiös geprägten Menschen auf Widerstand, die sich ihren Autonomierechten beraubt fühlten. Die Aleviten stellten sich damals noch auf Atatürks Seite, da dieser allen Bürgern ohne Ansehen der ethnisch-religiösen Zugehörigkeit gleiche Rechte versprochen hatte. Atatürk war die alevitische Gemeinde jedoch ein Dorn im Auge, da diese viel Macht in den Dersim und den Regionen drum herum hatte und somit eine potentielle Gefahr seiner angestrebten Homogenisierungspolitik darstellten.


Als mit der Niederschlagung des Seyh Said Aufstandes 1925 immer noch die Unruhen in Dersim nicht abnahmen, begann 1926 ein Vernichtungskrieg gegen die Bevölkerung von Dersim bei dem der türkische Staat jedoch nur wenige Erfolge erziehen konnte. 1930 wurden dann ca. 10000 Menschen aus Nord-Dersim („Pilemori“ und „Erzincan“) in westliche Gebiete der Türkei umgesiedelt. Das Ziel dieser Umsiedlungen war es Dersim Stück für Stück zu schwächen, da man damals Angst vor einer direkten Auseinandersetzungen hatte. Im Jahre 1934 hatte das türkische Parlament bereits das „Zwangsevakuierungsgesetz“ beschlossen, wonach im Jahre 1935 mit den „Tunceli-Gesetzen“ („Tunceli Kanunları“) der rechtliche Rahmen für den Operationsnamen „Züchtigung und Deportation“ („tedip ve tenkil“) gegeben wurde. Nach jahrelangem Kampf um ihre Autonomie gegen die Osmanische Herrschaft sollte Dersim nun in die türkische Republik eingegliedert werden.

Ein Grundsatz der nationalistischen Türken besagt: ”Alle, die in der Türkei leben, sind Türken.” Den ersten Start zum Dersim-Genozid hatte der Vater der Republik Mustafa Kemal Atatürk in seiner Parlamentseröffnungsrede im Jahre 1936 proklamiert:

„Wenn es etwas Wichtiges in unseren inneren Angelegenheiten gibt, dann ist es nur die Dersim-Angelegenheit. Um diese Narbe, diesen furchtbaren Eiter in unserem Inneren, samt der Wurzel anzupacken und zu säubern, müssen wir alles unternehmen, egal was es koste, und die Regierung muss mit weitreichenden Kompetenzen ausgestattet werden, damit sie dringend erforderliche Entscheidungen treffen kann.“

Als es dann vermehrt zu Unruhen kam verabschiedete die türkische Regierung am 4. Mai 1937 das Gesetz zur „Züchtigung und Deportation“ der in Dersim lebenden Menschen. Die Bevölkerung in Dersim hingegen forderte den sofortigen Rückzug aller türkischen Verwaltungsbehörden und die Anerkennung der Selbstverwaltung in Dersim. Die Stammesführer in Dersim unter der Führung von Seyid Riza forderten die sofortige Abschaffung der "Tunceli-Gesetze" und eine Verwaltungsreform, die ihnen Autonomierechte gewährte. Dies und Fälle von Gewalt, Mord und Vergewaltigung von Dorfbewohnern führte dazu, dass es vermehrt zu Auseinandersetzungen zwischen dem türkischen Militär und Dorfbewohnern kam.
Im Sommer 1937 eskalierten die Ereignisse, als Stammes-Kämpfer Kasernen und Wachen überfielen und versuchten, Brücken in Mazgirt und Pertek zu sprengen. Eine neu errichtete Brücke nahe Pertek „Singec“ trägt heute noch sinngemäß den Namen „Verkrieche Dich und gehe drüber“. Zugleich drangen türkische Bodentruppen in das Gebiet ein, brannten Dörfer nieder und ermordeten Zehntausende von Zivilisten - Männer, Frauen und auch Kinder. Auf Beschluss der türkischen Regierung wurden die Kämpfe in Dersim durch Bombardements der türkischen Luftwaffe intensiviert. Der Vormarsch wurde durch Sabiha Gökcen (Adoptivtochter von Staatspräsident Mustafa Kemal Atatürk) eingeleitet.

Die 80-jährige Menez Akkaya, die den Völkermord überlebt hat, sagte in einem Interview über die Einsammlung der Waffen:

”Ich war damals ein junges Mädchen. Die Soldaten kamen einige Male in unser Dorf und gingen wieder. Sie taten uns nichts. Wir haben sie nicht verstanden, weil wir kein Türkisch konnten. Später kamen sie noch einmal. Sie versammelten die Dorfbewohner. Es waren etwa 200 bis 300 Alte, Frauen und Kinder. Sie brachten uns in das Değirmen Taş Gebiet. Sie sagten, dass sie unsere Waffen haben wollten. Wenn sie sie hätten, würden sie uns freilassen. Sie brachten uns an das Bett des Flusses und töteten uns. Sie töteten auch meinen Mann. Nur wir, drei Personen, überlebten. (...) Wir blieben tagelang ohne Essen und Trinken unter den Leichen. Es war mit uns so, dass wir keine Angst hatten. In Kiran überredeten Soldaten etwa 400 Familien und versicherten, dass ihnen nichts geschehen würde, wenn sie sich ergäben. Die Soldaten ließen dann die Bewohner auf Dorfplätzen antreten. Die Männer wurden standrechtlich erschossen. Frauen und Kinder wurden in Scheunen gesperrt und lebendig verbrannt.”

Mehrmalige Aufrufe der Widerstandsführer an die Weltorganisationen wurden einfach ignoriert.
Der Völkerbund wurde über die Vorfälle in Dersim durch das Schreiben von Nuri Dersimi informiert, der von seinem syrischen Asyl aus einen zweiseitigen französischen Brief an den Völkerbund in Genf richtete. Er unterzeichnete den Brief mit „Seyid Rıza“. Der Appell stieß aber auf taube Ohren. Der Völkerbund betrachtete die Ereignisse als innere Angelegenheit der Türkei, da eine muslimische Minderheit betroffen war und dies die Minderheitenklauseln des Lausanner Vertrags nicht berührte. Im September wurde Rızas Lage aussichtslos. Seine zweite Frau Bese, ein weiterer Sohn sowie eine große Anzahl von Bewohnern seines Dorfes wurden von Soldaten getötet. Daraufhin schlug Seyid Riza offenbar auch auf Druck seines eigenen Stammes hin den türkischen Behörden wieder Neuverhandlungen vor, die vom türkischen Staat angenommen wurden. Als Widerstands-Führer wurde er zu Verhandlungen nach Erzincan eingeladen, wobei man ihm zusicherte, die Forderungen der Bevölkerung zu akzeptieren und der türkischen Armee den Befehl zur Feuereinstellung zu geben. Als er aber in Erzincan eintraf, wurden er und seine Begleiter am 5. September festgenommen und am 18. November 1937 mit zehn seiner Gefolgsleuten (darunter zwei seiner Söhne) in Elazığ hingerichtet. Der Mann, der das Gerichtsverfahren leitete, schilderte die Hinrichtung von Seyid Riza in seinen Memoiren mit folgenden Worten:
„Als Seyit Rıza die Galgen sah, verstand er. „Ihr werdet mich hängen‘, sagte er, und drehte sich zu mir um. ‚Bist du aus Ankara gekommen, um mich zu hängen? ‘ Wir schauten uns an. Zum ersten Mal stand ich einem Menschen, der hingerichtet werden sollte, von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Er lachte. Der Staatsanwalt fragte, ob er beten wolle. Er lehnte ab. Wir fragten nach seinen letzten Worten. ‚Ich habe noch vierzig Lira und eine Uhr, gebt die meinem Sohn‘, sagte er. Seyit Rıza sprach in die Stille und Leere, als ob der Platz voller Menschen sei. ‚Wir sind Kinder Kerbelas. Wir haben nichts verbrochen. Es ist eine Schande. Es ist eine Grausamkeit. Es ist Mord. ‘, sagte er. Er lief mit gleichmäßigen, scharfen Schritten dem Zigeuner entgegen und schubste ihn. Er legte sich den Strick um, trat den Stuhl weg und vollstreckte sein eigenes Urteil.

Nach der Hinrichtung von Seyid Rıza und seiner Gefolgsleute wurden die Leichen zur Schau durch die Stadt gefahren und schließlich verbrannt. Nichts sollte von dem Führer des Aufstandes übrig bleiben. Auch nach der Ermordung Seyid Rızas ging der Widerstand der Bevölkerung weiter. Ohne Anführer der Aufständischen konnten die türkischen Truppen unter Einsatz der Luftwaffe gegen einen nicht koordinierten Widerstand vorgehen und Dersim vollständig zerstören.

1938, der Höhepunkt des Genozids:

1938 erreichte der Genozid seinen Höhepunkt. Die Türkische Armee setzte über 50.000 Mann in Dersim ein, um den Aufstand niederzuwerfen. Viele Menschen flüchteten in die hohen Berge und Höhlen. Manche Höhlen wurden zugemauert. Gruppen, die sich in Höhlen verstecken, wurden ausgeräuchert oder verbrannt. Fliehende Menschen warfen sich in tiefe Täler, um nicht gefangen genommen zu werden. Zahlreiche Menschen wurden bei lebendigem Leibe begraben. Ort für Ort, Tal für Tal wurde die gebirgige Region erobert. Nach wenigen Monaten war der Aufstand niedergeschlagen und das schwer zugängliche Territorium schließlich von der Türkischen Armee unter General Abdullah Alpdoğan erobert. Auch die Bevölkerungsteile, die sich nicht an dem Aufstand beteiligt und an die Versprechungen der Regierung geglaubt hatten, blieben nicht verschont. Selbst diejenigen, die zu einer "Übersiedlung" in den Westen Anatoliens bereit waren - vielen Menschen hatte man dort große Häuser und Reichtum versprochen - wurden Opfer des brutalen Vorgehens.

Über 70.000 Menschen wurden in Dersim getötet. Von Regierungsseite werden inzwischen 14.300 Ermordungen zugegeben. Nach der endgültigen Niederschlagung des Aufstandes wurden bis zu 50.000 Menschen deportiert, da sie auf diese Art - so die Überlegung der Staatsmacht - leichter zu assimilieren waren. Dafür wurden eigens Auffanglager eingerichtet. Nach 1938 lag eine Friedhofatmosphäre über Dersim, und wegen der Aufstände war es allen Journalisten verboten nach Dersim zu reisen. Diese fehlten damals, um der Welt von dem „Krieg gegen Männer, Frauen und Kinder“, von der Zerstörung ganzer Ortschaften und der Deportation ihrer Einwohner zu berichten.

Nach dieser - wie es im türkischen Jargon euphemistisch hieß - "Säuberung" wurde die Provinz umbenannt. Die Provinzhauptstadt Hozat wurde durch Tunceli (Stadt) ersetzt. Tunceli wurde in einer leicht zugänglichen Gegend gegründet. Dahinter lag auch die Überlegung die Stadt im Falle eines erneuten Aufstandes mit der Armee schneller zu erreichen. Die alten Namen der Dörfer und Städte wurden durch türkische Namen ersetzt. Auch Moscheen wurden gebaut, obwohl sich die Einheimischen Aleviten damit nicht identifizieren konnten. Überall wurden Militärkasernen, Gendarmarie- und Polizeiwachen gebaut. Das Umsiedlungsgesetz und die militärische Kampagne waren Teil der Sunnitisierungspolitik und richteten sich primär gegen die liberale Weltanschauung, die Kultur sowie gegen die Zugehörigkeit der alevitischen Lebensgemeinschaft. Eine Amnestie für Bewohner, die in die Berge geflüchtet waren, wurden erst 1946 erlassen. Der Ausnahmezustand wurde 1948 aufgehoben. Erst danach wurde der Zutritt zur Region wieder ermöglicht. In den Jahren danach sind aus politischen, kulturellen bzw. wirtschaftlichen Motiven viele Menschen aus der Region geflohen. Zuerst in die westanatolischen Städte, daraufhin nach Istanbul und später ins Ausland.

Noch debattieren die Wissenschaftler, ob dieses Massaker die Kriterien der 1948 festgelegten Definition von Völkermord erfüllen. Faktum ist, dass die Türkischen Truppen in den Jahren 1937/1938 in Dersim einen Völkermord begangen haben. Die Niederschlagung des Dersim-Aufstandes gilt nach dem Genozid an Armeniern und Aramäern durch die Osmanen im Osmanischen Reich als eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Türkischen Republik, das Vernichtung von Kultur, Religion sowie Lebensgrundlagen einer Minderheit zum Ziel hatte. Der Dersim-Genozid wurde Schritt für Schritt exemplarisch vorbereitet und durchgeführt. Für die Dersimer erhält dieser Genozid eine ähnlich große Bedeutung wie der Völkermord von 1915/1917 für die Armenier oder der Holocaust für die Juden. Fast keine Familie, kein Dorf blieb von den Morden der Operation „Züchtigung und Deportation“ durch das türkische Militär verschont. Kein anderes Thema hält die Menschen aus Dersim als Schicksalsgemeinschaft heute so fest zusammen wie dieses.
Das Trauma dauert heute noch an...

Die Zahl der Ermordeten ist bis heute nicht geklärt und schwankt zwischen 30000 und 90000 Toten.
Auf jeden Fall sind die 13 000 Toten, die Premierminister Erdogan nun angibt, nicht realistisch, deshalb fordert die Alevitische Gemeinde Deutschland (AABF) folgendes:

1. Es muss eine unabhängige Forschungs-, Wahrheits- und Versöhnungskommission gegründet werden, die für fundierte Aufklärung sorgt.
2. Die Staatsarchive, insbesondere die des Militärs, müssen geöffnet werden.
3. Die Stadt Tunceli muss umbenannt werden und ihren alten Namen Dersim wieder bekommen.
4. Die Staatsführung und das Parlament müssen sich offiziell entschuldigen und sich für die Entschädigung der Region einsetze.
5. Zur Andacht an das Massaker muss mit einem Staatsakt ein Mahnmal gesetzt werden.
6. Die Gräber von Seyit Riza sowie 50 weiteren seiner Anhänger, die in Elazig erhängt wurden, müssen bekannt gegeben werden.
7. Eine Statue von Seyit Riza muss zu seinen Ehren errichtet werden.
8. Die Listen von den Familien, die nach 1938 zwangsumsiedelt wurden, müssen bekannt gemacht werden.
9. Sabiha Gökcen, die erste Kampfpilotin der Türkei, die auch die Adoptivtochter von Atatürk war, bombardierte Dersim. Der Flughafen in Istanbul, der nach ihr benannt ist muss sofort umbenannt werden.

Wir gedenken nochmals den Opfern des Genozids von Dersim...mögen sie in Frieden ruhen...wir werden diese grausame Tat niemals vergessen...

Biranina Mirowen Dersime e go ji ber Bindestiye Jiyana xwe ji dest dan
Hun nayen ji bir kirin...

Quelle: welt.de, kurmesliler.com, alevi.com, norman-paech.de, Serhildan News

1 Kommentar:

  1. Vielen Dank für Ihren informativen und wichtigen Beitrag. Könnten Sie sich bitte mal beim ADMIN dieser Seite melden? www.Kritisches-Netzwerk.de (siehe Impressum oben rechts)

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